SZ-Artikel vom 21.05.2004: Ein Herz kann man reparieren

Das Stadion an der Grünwalder Straße wartet auf die Rückkehr des TSV 1860 München

Von der U-Bahn-Station Wettersteinplatz sind es nur noch ein paar Minuten. Erst kommt man an der Apotheke vorbei, am Supermarkt und dann am rosa verputzten Einfamilienhaus von Frau Rösch. Von ihrem Gartentor sind es noch zwanzig Meter bis zum Eingang des Stadions an der Grünwalder Straße. Die Rentnerin bringt gerade den Müll zur Tonne. Natürlich hat sie in der Zeitung gelesen, dass der TSV 1860 in der nächsten Saison vielleicht wieder an der Grünwalder Straße spielt. Frau Rösch war in ihrem ganzen Leben noch nicht in dem Stadion, aber sie hat nichts dagegen. ¸¸Solange die Fans sich ordentlich aufführen", sagt sie. ¸¸Aber es ist ja immer viel Polizei da."

Durch den Eingang, links herum Richtung Gaststätte. Am Tor ein Verbotsschild aus Holz, das eine Geschichte erzählt. Der Lack blättert ab, jemand hat bei ¸¸kein" den Buchstaben ¸¸k" entfernt. ¸¸Aus Sicherheitsgründen ein Durchgang. Sportamt", steht jetzt da, und darüber hat jemand ¸¸Jutta Schnell raus" geschrieben. Schnell, die Fanbeauftragte des TSV 1860, stand für das System Wildmoser, in dem eine Rückkehr ins Sechzger-Stadion ausgeschlossen war. ¸¸Dieses Stadion betrete ich nie mehr", hat Wildmoser gesagt, als er bei einem Amateurspiel von Fans beschimpft worden war. Muss er jetzt auch nicht mehr.

Im Gästeblock stehen heute: ein älteres Ehepaar, ein Mann im Anzug und eine Frau mit Lederhandtasche. Spielereltern. Heute findet das Pokalfinale zwischen den A-Junioren des TSV 1860 und des FC Bayern statt. Bald werden hier vielleicht wieder Fans stehen. Ganz oben, am verrosteten Maschendrahtzaun, rankt sich das Efeu empor, dazwischen hängt eine alte Red Bull-Dose. Es muss doch mal jemand hier oben gewesen sein in letzter Zeit, obwohl es weiter unten genug Platz gegeben hätte; was für eine gute Entscheidung. Er hat vielleicht durch den Zaun hinuntergesehen auf den Wettersteinplatz, hat die Menschen an der Straßenbahnhaltestelle warten sehen und die Autos auf der vierspurigen Straße in den Vorort fahren. Dieser Fan hat die Kirchtürme gesehen und die Giesinger Wohnblocks. Man muss hier stehen, ganz oben, um dieses Stadion zu begreifen. Es heißt immer: das Sechzger-Stadion wäre ganz prima, wäre es nicht mitten in der Stadt. Das ist das größte Missverständnis.

Zur Gegentribüne führt ein graues Beton-Treppenhaus hinauf, das in jedes Parkhaus aus den Siebzigern passen würde. Die Fangruppierungen ¸¸Cosa Nostra" und ¸¸Young Boys 1860" haben sich mit Edding-Stiften verewigt, außerdem steht da: ¸¸Sascha ich liebe dich", nebenan ergänzt: ¸¸Von ganzem Herzen." Ob die Verfasserin Sascha noch liebt? Ob ihre Beziehung Risse bekommen hat wie die Betonstufen? Eine Herz kann man nicht reparieren, heißt es. Das Herz von 1860 kann man reparieren, mit Mörtel und Farbe. Die Rückkehr ins Sechzger-Stadion könnte die zerstrittenen Anhänger wieder vereinen und Grundstein sein für die Zukunft des TSV 1860.

Hier oben könnte sie beginnen, im Block H. Von der Gegentribüne mit den ausgeblichenen orangen Sitzschalen muss man unter dem Block J durch, oben kann man nicht entlang. ¸¸Block J nicht zugänglich", steht da. Er ist renovierungsbedürftig, müsste auch in der Zweiten Liga gesperrt bleiben. Rund 24 000 Plätze hätte das Stadion dann immer noch. Hier oben im Block H steht die graue Anzeigetafel aus Wellblech. Wenn ein Tor fällt, hängt der Mann mit der Eisenstange eine neue Zahlentafel an den Haken. Es wird keine Großbildleinwand geben, kein Stadion-TV und keine Werbevideos. Aber die Stufen, aus denen Gras und Moos wächst, werden voller Menschen sein. Aus den alten Lautsprechern scheppert: ¸¸57, 58, 59, 60, ja so klingt"s im Chor!" Die Popschnulze ¸¸Stark wie noch nie", der musikalische Ausdruck eines Missverständnisses, wird nicht gespielt. Sie passt nicht hierher.

Das Spiel beginnt. Von hier oben wirkt das Jugendspiel wie ein planloses Gebolze, der Ball fliegt durch die Luft, mal hierhin, mal dorthin, es spielt keine Rolle. Von ganz unten, wenn man auf den weißen Plastikbänken sitzt, sind es nur noch zehn Meter bis zur Auslinie. Jeder Zweikampf sieht unmittelbarer aus, als ihn eine Kamera je einfangen könnte. Man hört jeden Schrei, jeden Tritt gegen den Ball. Zuschauer und Spieler kommen sich nahe.

Das Spiel ist bald zu Ende. Die Sonne senkt sich über die leere Löwen-Kurve, das verkratzte Plexiglas, das den Weg von den engen Kabinen auf den Platz umhüllt, leuchtet orange. Nächstes Jahr vielleicht, wenn die Deutsche Fußball-Liga bei ihrer Besichtigung heute nicht zu viel auszusetzen hat, wird der TSV 1860 hier spielen. Danach zieht der Verein in die Allianz-Arena, ein modernes Vergnügungszentrum am Stadtrand mit Erlebnisgastronomie, VIP-Kabinen und Showtechnik. Wer wäre nicht begeistert? Würde man Frau Rösch statt ihres rosa Einfamilienhäuschens in Giesing eine Penthouse-Wohnung mit Panorama-Fenster, Dachterrasse und Whirlpool anbieten, würde sie doch auch hinziehen.

¸¸Nein", sagt Frau Rösch, ¸¸für kein Geld der Welt. Schließlich bin ich hier zu Hause."

von Markus Schäflein

CK's Kommentar: Zum Heulen schön, danke SZ !!!

Home