SZ-Artikel vom 18.01.2003: Eine nostalgische Stadion-Hommage

Wir standen auf zugigen Plätzen

Nächste Woche startet die Bundesliga in die Rückrunde: Langsam wird klar, dass wir mit den unpraktischen, aber immerhin tolldreisten Stadien der Siebzigerjahre auch einen Traum beerdigen müssen. In diesem Traum waren Fußballer so bunt und mächtig und mutig wie sonst nur die Männer von Pink Floyd.
von Ralf Wiegand

Der Sprengmeister aus Wuppertal biss in ein Schinkenbrötchen, dann kontrollierte er ein letztes Mal die Technik. 600 Löcher hatte er in die Pfeiler der West- und Osttribüne bohren und sie mit Eurodun füllen lassen, einem Sprengstoff. Um 15.02 Uhr am 12. September 2002, einem schönen Donnerstag Nachmittag, legte Helmut Roller den Schalter um – und das Düsseldorfer Rheinstadion in Schutt und Asche. Dann lächelte er und sagte: „Nun ist Platz für Neues da.“

In Köln rückte der Bagger am 20. Dezember 2001 an, darauf saß Oberbürgermeister Fritz Schramma. Mit der Schaufel des Baggers hieb er ein großes Loch in die Südkurve des Müngersdorfer Stadions. Wieder ein Donnerstag, wieder schien die Sonne. Schramma sagte: „Der 1. FC Köln und seine Fans werden von dem neuen Stadion profitieren.“

Das Gelsenkirchener Parkstadion schloss der Hausmeister nach dem letzten Spiel der Saison am 19. Mai 2001 einfach ab, für immer. Schalke hatte 5:3 gegen Unterhaching gewonnen und war nicht Deutscher Meister geworden.

Die Stadien sterben, aber keines davon eines natürlichen Todes. Sie werden gesprengt, abgerissen, um 90 Grad gedreht, umbenannt, runderneuert. Wenn diejenigen, die dahinter stecken, fertig sind, wird es keine Fußballstadien mehr geben, nur noch Fußball-Arenen.

Ein Stadion war weit und offen, und um es mit Leben zu erfüllen, brauchte es Leidenschaft und Liebe. Wer dem Regen trotzte und dem Wind, wer die schlechte Akustik besiegte, wer zu sechst in einem schlecht belüfteten alten Auto den Stau ertrug und danach die langen Schlangen an den viel zu wenigen Kassenhäuschen, wer sich auf nichts mehr freute, als darauf, den Samstag Nachmittag wieder in einem grauen Zweckbau ohne Dach zu verbringen – stehend, frierend, verlierend –, der musste lieben können.

Der FC-Köln-Fan „f.kober“ schrieb im Internet: „Die Schüssel war geil, und wenn der FC zurücklag und in den Achtzigern (...)noch 66 000 riefen: ,FC kämpfen, FC kämpfen‘, und das hallte dann so im Kreis umher, das war fantastisch.“

Es sind die Rituale, die abgeschafft werden, weil, so hat es ein Soziologe einmal genannt, die Gesellschaft eine „Entprollisierung“ möchte. Fußball-Fan-Rituale sind anarchisch, sie haben mit Alkohol zu tun und mit Pöbeleien, aber auch mit einem Gruppenerlebnis, das es in einer Arena nicht mehr geben kann. Man fuhr mit der Straßenbahn zwei Haltestellen bis zum nächsten Supermarkt, kaufte sich ein Six-Pack als Wegzehrung und trank sich in eine Laune, in der man später im Stadion die Sitzplatzkundschaft als Sesselfurzer beschimpfte.

Die Texte entstanden in den Kneipen Düsseldorf-Flingerns oder im „Taubenschlag“ in Bremen, in Tränken, die ihr Bier samstags lieber in Plastikbechern als im Glas ausschenkten. Heute sind Stadien, die noch nicht ganz Arenen sind, so hochgerüstet, dass sie aus Zig-Tausend-Watt-Boxen den Lärm vorgeben, der zu herrschen hat. Wenn man Glück hat, spielen sie eine Hymne, die man mitsingen kann. Wenn man Pech hat, spielt jemand vom „Fan-TV“ mit einem Zuschauer Playstation über die Videowand.

Arenen gibt es aus demselben Grund, aus dem es Multiplex-Kinos gibt und Straßenbahnen, die nicht mehr klingeln und rumpeln, sondern linkisch durch die Stadt schleichen. Arenen gibt es, weil aus Freibädern Aqua-Parks werden und aus Weihnachtsmärkten Winter-Festivals. Arenen gibt es, weil Sport- Bild eine höhere Auflage hat als der kicker und weil derjenige Kanzler wird, der nicht „äh“ sagt. Arenen kann jedermann zu jederzeit bestaunen und sich dort zurechtfinden. Man kann hingehen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob man Regenschirm oder Sonnenbrille braucht. Arenen kennen kein Wetter. In Arenen ist die Sicht von jedem Platz aus gut. Arenen sind bequem. Vom Schalke-Fanklub „Bluewhite-Angels“ ist inzwischen der wunderbare Satz zu lesen: „Heute wissen wir, dass wir die frische Luft und manchmal auch den einen oder anderen Regentropfen vermissen.“

Die Verpackung ist wichtiger als ... als, als was nochmal? Früher war der beste Verein der, der die tollsten Spieler hatte und dessen Mannschaft den schönsten Fußball spielte. Ein Günter Netzer, dessen Haare länger waren und der Hals dafür kürzer, der brauchte keine Arena als Kulisse für seine Pässe, so leicht wie bunte Seifenblasen, so scharf wie Messer. Es genügten ein paar Schritte mit seinen großen Füßen, Schuhgröße 47, und die weiteste Siebzigerjahreschüssel brannte vor Spannung. Und wenn die Vorlage kam in den Lauf von Jupp Heynckes, der Ball im Tor lag, dann verrichteten die Wellenbrecher aus rostigem Eisen ihren Dienst und zähmten den Jubel.

Wenn nächste Woche die Bundesliga beginnt, wird ran wieder seinen Trailer senden. Die Computer-Animateure haben als Vorspann zur Sendung ein Stadion simuliert, eine Arena, in der es keinen einzigen Menschen gibt mit Schal oder einen Fan oder eine Tröte. Die virtuelle Kamera surft durch eine Arena, auf deren Ränge Buchstaben sitzen, welche die Vereinsnamen der Bundesliga-Klubs bilden. Die Buchstaben schauen auf einen leeren Rasen, sie sind Zuschauer bei etwas, das nicht passiert.

Wie wichtig die Inszenierung ist, die Architekten schaffen, hat Wolfgang Wolf bitter erfahren müssen. Der Wolfsburger Trainer wird, wenn die Bundesliga wieder beginnt, vielleicht noch 17 Spiele machen als Trainer des VfL. Wolfgang Wolf, Wolfsburg – das kann auch noch schneller zu Ende gehen, zwei, drei Niederlagen und tschüss. Der Verein hat beschlossen, sich spätestens am Ende der Saison von seinem Trainer zu trennen, weil der „den Ansprüchen“ nicht mehr genügt. Die Ansprüche des Vereins sind nicht auf dem Rasen herausgespielt worden von Klimovic, Maric, Ponte oder Effenberg. Bauarbeiter haben sie aus dem Boden gestampft. Auch diese Ansprüche haben ein Dach, Videowände, 30 000 Plätze und heißen Volkswagen-Arena.

Die Wolfsburger finden, Wolfgang Wolf war gut genug für das alte VfL- Stadion, 600 Meter nebenan. Verglichen mit der Arena wirkt es nun wie ein Sportplatz, aber tatsächlich ist es nur noch eine Ruine, ein gestrandeter Wal, der nicht wiederzubeleben ist. Else Pieschke, 68, konnte mit ihren Freundinnen vom Dachboden ihres Hauses in der Kiebitzstraße21 hineinschauen. Jetzt sagt Wolfburgs Manager Peter Pander erleichtert, man könne das Thema Wolfsburg und Provinz zu den Akten legen.

Frau Pieschke ist traurig, denn das Erleben hat sich verändert, nicht nur für sie. Die Aufmerksamkeit gehört nicht mehr dem Spiel allein, sie wird nicht einmal mehr verlangt.

Wer Uli Borowkas Tor zum 1:0 von Werder Bremen gegen die Bayern am 28. September 1990 nicht gesehen hat, weil er seine Bratwurst kurz nach der Pause kaufen wollte, um der hungrigen Schlange vor dem Imbissstand auszuweichen, den erreichte von dem für Raimond Aumann unhaltbaren Schuss aus 35 Metern nur noch die Druckwelle, draußen auf dem Wandelgang des Weserstadions.

Ein Orkan, der durch das Tor aus dem Innenraum nach draußen fegte, und wenn man dann, ohne Wurst, hinein eilte, dann war man halt zu spät. Das Tor war in der 52. Minute gefallen, nicht nach 52 Minuten und 20 Sekunden. Es war weg, keine Videowand zeigte es noch einmal aus drei Perspektiven. Man musste dabei gewesen sein.

Die Zukunft? Die nahe Zukunft wird die Münchner Allianz-Arena sein. An der A9 wachsen zwei Dutzend Kräne in den Himmel und bauen an etwas, das man einmal mit dem FC Bayern verbinden soll wie einst die Popstars Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Paul Breitner. Die bespielten ein Stadion, das in seiner psychedelischen Weite sonst nur von Pink Floyd wirklich beherrscht wurde.

Unter dem Spielfeld der Allianz-Arena wird hingegen das größte Parkhaus Europas ausgehoben. Diese Arenen aber sind am Ende nur, was ihre Vorgänger auch waren: ein Symbol ihrer Zeit. Schon in den Siebzigerjahren waren die Baumeister so vermessen, zu glauben, den Publikumsgeschmack für alle Zeiten bestimmen zu können. Sie bauten also überall so, wie die Siebziger sein sollten: groß, weit, offen, ein bisschen gaga. Stand man in einem menschenleeren Stadion, in dem 70000 Leute Platz finden, dann schüttelte es einen ob der eigenen Winzigkeit. Manche Architekten ließen sich für ihren Bau ein Mitbestimmungsrecht für die Ewigkeit einräumen.

Bei den Arenen war man gründlicher, denn sie müssen jedem gerecht werden. Vermarkter erstellten Zielgruppen- und Reichweitenanalysen. Man kann in der Arena auf Schalke Biathlon sehen, Robbie Williams, Aida, manchmal Fußball. Der Rasen muss zum Lüften nach draußen gerollt werden. Arenen sind so massentauglich, dass Sponsoren ihr Geld lieber in das Namensrecht für ein Gebäude investieren als in eine Mannschaft. Der Hamburger SV zu seinen besten Zeiten hatte auf der Bank Ernst Happel und auf dem Platz Felix Magath, eine wahrhaftige Nummer 10. Der HSV von heute hat die AOL-Arena.

Als nächstes wird das virtuelle Stadion kommen, Japaner haben schon damit experimentiert. Zum virtuellen Stadion wird niemand mehr hingehen müssen, man klinkt sich von zu Hause ein, die Atmosphäre kommt durchs Datenkabel.

Liebe, Leidenschaft, Regen, Wind?

In Düsseldorf wohnten Tausende der Sprengung ihres Lieblingsblocks 36 bei. Galt das Rheinstadion mit seinen mächtigen Pfeilern nicht als zweite Pop- Perle neben dem Münchener Olympiastadion? War es nicht wunderbar, wenn „Zimbo“ Zimmermann seine Freistöße 20 Meter über die Anzeigentafel direkt ins angrenzende Freibad schoss und die schönen Mädchen von der Modemesse dort quiekend das Weite suchten?

Der FC-Köln-Fan „f.kober“ schrieb nach dem Ende des Müngersdorfer Stadions im Internet: „Mein Block 38 ist nun abgerissen, und ich habe noch keine Ahnung, wo ich beim ersten Heimspiel gegen den KSC sitzen werde. Mein Sohn und unsere ganze Clique auch nicht, wir haben unser Zuhause verloren. “

CK's Kommentar: Auch wenn mir die weitläufigen Leichtatletikstadien nicht wirklich gefallen, so ist es doch ein sehr guter Artikel der erklärt wieso viele Fans in diesen modernen Kommerzarenen kein echtes Fussballfeeling mehr haben. Gerade in unserem Grünwalder Stadion wäre dies noch gegeben, aber KHW baut ja lieber zusammen mit den Bayern eine weitere grosse Kommerzarena...

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